Lili wurde am 11. Dezember 1999 um 18.10 Uhr geboren. Sie wurde schon sehnsüchtig von uns und ihrem 2,5-Jahre älteren Bruder Bert erwartet, da sie sich Zeit gelassen hatte und schon einige Zeit über dem Termin war. Die Geburt war kurz und verglichen mit der ihres Bruders so angenehm, dass wir vier Stunden später spontan beschlossen, nach Hause zu fahren. Ihre Werte waren sehr gut und so sprach nichts dagegen.
Die Hebamme, die uns betreute, stellte eine leichte Neugeborenengelbsucht fest, die aber nach kurzer Zeit unbehandelt wieder verschwand. Im Gegensatz zu Bert, der als Baby extrem pflegeleicht war, fiel uns auf, dass Lili viel weinte und auch in den nächsten Monaten eher ängstlich war, zum Beispiel war sie recht schreckhaft und hatte sogar Angst vor einigen ihrer Stofftiere (Marienkäfer). Die Zeit, bis Lili eine gewisse Selbständigkeit entwickelte, war anstrengend, da wir sie oft die ganze Nacht schaukeln, wippen und/oder herumtragen mussten. Berts Kommentar: "Mama, das Baby ist aber laut." Damals hatte Musik schon eine beruhigende Wirkung; wir haben ihr stundenlang Kinderlieder vorgesungen und vorgespielt. Sobald Lili selbständiger wurde, änderte sich alles. Sie war sehr ehrgeizig und wollte alles so können, wie ihr großer Bruder. Mit 11 Monaten fing sie an zu laufen, die Sprachentwicklung war regelgerecht und mit drei Jahren konnte sie ohne Stützräder Fahrrad fahren. Rückblickend fallen uns Auffälligkeiten auf - gerade im Vergleich zu ihrem älteren Bruder. Sie war feinmotorisch nicht so geschickt, ihr Wortschatz war nicht so groß - aber das waren Kleinigkeiten, die nicht einmal bei den regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen auffielen. Vom Wesen war Lili immer noch recht ängstlich, aber sehr fröhlich und lustig - sie schloss schnell Freundschaften und jeder mochte sie, da sie sehr einfühlsam war - und bis heute ist.
Als Lili 3,5 Jahre alt war sind wir umgezogen, Lili musste den Kindergarten wechseln und fast zeitgleich begann sie zu stottern. Wir machten uns keine großen Sorgen, eine verwandte Logopädin hat uns auch immer wieder Mut gemacht, dass doch sonst alles ok sei. Allerdings wunderten wir uns über einige kleinere Auffälligkeiten. Feinmotorisch hatte sie immer noch Unsicherheiten, die augenscheinlich auch nicht besser wurden. Sie war etwas unbeholfen beim Laufen, konnte nicht fangen, nicht gut hüpfen und stolperte öfter und auffällig war auch ihre enorme Sensibilität. Jedoch führte sie immer noch ein unbeschwertes Kleinmädchenleben, mit Tanzen, Malen, Singen, Freunde haben, Puppenmama sein und trotz ihrer feinmotorischen Probleme malte sie gerne Mandalas aus und fertigte Muster aus Bügelperlen. Da sich die Sprache nicht verbesserte, entschlossen wir uns, eine Logopädin aufzusuchen, die uns dann an das Frühförderzentrum in Köln verwies. Dort wurde ein Entwicklungsdefizit im sprachlichen, motorischen und kognitiven Bereich festgestellt, zusätzlich zu Logopädie bekam Lili nun Ergotherapie. Zu Beginn machte sie im motorischen Bereich auch deutliche Fortschritte, aber bei der Schuluntersuchung im Alter von 5 Jahren sprach man plötzlich von einer Lernbehinderung an der Grenze zur geistigen Behinderung. Wir waren fassungslos. Auch die Erzieherinnen ihres Regelkindergartens konnten diese Einschätzung weder teilen noch verstehen. Sie hatten Lili drei Jahre intensiv begleitet und solch schwerwiegende Defizite konnten sie nicht unterschreiben. Durch den Einsatz von Lilis Ergotherapeutin haben wir es geschafft, dass Lili auf eine Schule für körperliche Entwicklung eingeschult werden konnte - für uns ein 6er im Lotto, da sie dort die Chance hatte, in einem sehr geschützten und geborgenen Umfeld ihre Defizite aufzuholen - wie wir dachten.
Lili fühlte sich dort sofort wohl, fand gute Freunde, wurde gefördert, war beliebt (zu Beginn das einzige Mädchen in der Klasse) und - stagnierte. Am Ende des 1. Schuljahres war klar, sie würde ab dem nächsten Schuljahr in dem Kurs "geistige Entwicklung" gefördert. Unsere Sorgen wuchsen. Wir konnten uns das nicht erklären. Kein Arzt, den wir konsultierten, konnte uns helfen - wir befanden uns am Beginn einer Odysee. Aus einem zuerst normal entwickelten Kind wurde zunächst ein entwicklungsverzögertes dann innerhalb kürzester Zeit ein geistig behindertes Kind - und - was wir zu dem Zeitpunkt zum Glück noch nicht wussten - in den nächsten drei Jahren ein Pflegefall.
Wir standen als Eltern unter enormen Druck. Da uns niemand eine Diagnose geben konnte, versuchten wir wenigstens durch Therapien den Verlauf aufzuhalten. Lili bekam in der Schule Logopädie, Ergotherapie, Krankengymnastik. In der folgenden Zeit versuchten wir es mit Psychomotorik (jahrelang), Schwimmtherapie, Reittherapie, Tomatis-Therapie - nichts half. Es gab immer wieder kurze Phasen, wo es ihr besser ging, aber der Verlauf war in etwa ein Schritt vor, drei zurück.
Der größte Horror begann, als unser Mädchen, das mit 2,5 Jahren trocken war, begann, in der Schule einzunässen. Die Schule äußerte sich sehr besorgt, Lili schien verwirrt, verlor Hemmungen (einmal zog sie sich auf dem Flur die Hose runter...), wollte mitten im Unterricht nach Hause gehen, weinte viel - man führte Gespräche mit uns, suchte das Problem im familiären Umfeld und - unser größter Horror - sie sollte die Schule wechseln. Wir hatten immer noch die Hoffnung, dass sie sich nach dieser "Phase "weiter- bzw. doch noch normal entwickeln könne - naiv - aber wir wussten es eben nicht besser. Von Ärzteseite sprach man mittlerweile von einer "Laune der Natur", bzw. manch einer von einem "Sauerstoffmangel bei der Geburt" - was natürlich nicht zu der zuerst normalen Entwicklung passte. Wir wollten - bis wir eine Diagnose hatten - unbedingt, dass sie auf der Schule für körperliche Entwicklung bleiben sollte, in der Hoffnung, dass sie dort zumindest irgendwann einen Hauptschulabschluss machen könne. Wir hatten zum einen Angst um ihre "berufliche" Zukunft, aber auch davor, Türen zuzuschlagen, die man später nicht mehr öffnen könnte. Im Jahr 2007 - kurz vor Lilis 8. Geburtstag kam dann der große Einbruch. Sie sprach immer weniger, fing an zu grimassieren, hatte kaum noch Kontrolle über ihre Ausscheidungen und war plötzlich apathisch. Unser Eindruck war, dass so nach und nach alle ihre Rolläden runter gingen. An Dingen, die sie früher begeistert hatten, hatte sie plötzllich kein Interesse mehr. Ihre Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke würdigte sie in dem Jahr keines Blickes. Der einzige Zugang zu ihr war durch Musik. Lili litt auch unter ihrem Zustand. Im Jahr 2008, als sie noch etwas sprechen konnte, meinte sie ganz vorwurfsvoll "behindert, ich bin doch gar nicht behindert". Schweren Herzens entschieden wir uns für einen Schulwechsel. Im Jahr 2008 wechselte sie auf die Schule für geistige Entwicklung. Der Wechsel fiel ihr zuerst schwer, sie vermisst heute noch ihren Lieblingsfreund Bruno, der auch immer noch bei uns anruft und fragt, wann Lili wieder gesund ist und wieder zu ihm zurück kommt. Aber trotzdem war der Wechsel gut. Die Schule ist noch kleiner, sie wird dort in einem liebevollen Umfeld betreut. Im Jahr 2008 mussten wir uns auch eingestehen, dass sie wohl nicht mehr alleine Fahrrad fahren konnte - wir hatten sehr abenteuerliche und nervenaufreibende sonntägliche Fahrradausflüge hinter uns - deshalb schafften wir ein Therapietandem an, das wir im Internet günstig gebraucht kaufen konnten. Dieses Fahrrad gab uns große Lebensqualität. ENDLICH konnten wir wieder als Familie Ausflüge ohne Auto unternehmen, Lili hatte jetzt wieder die Chance Geschwindigkeit zu erfahren, sich dabei zu bewegen und sie liebt es, wenn ihr der Fahrtwind um die Ohren weht. Tatsächlich erholte sie sich wieder. Ihre Schluckprobleme und das Grimassieren entwickelten sich komplett zurück, jedoch wurde die Motorik schlechter. Sie konnte nur noch kurze Strecken gestützt gehen, hörte auf zu sprechen - jedoch ging das Singen noch für ein Jahr (bis 2010) und: WIR HATTEN IMMER NOCH KEINE DIAGNOSE.
Mittlerweile hatten wir schon einiges ausschließen können. Die erste "Diagnose" war Entwicklungsverzögerung, sensorische Integrationsstörung, ausgeschlossen wurden Fragiles X-Syndrom, Rett-Syndrom, Spinocerebelläre Ataxie, cerebraler Folatmangel, neuronale Ceroidlipofuszinose. Aber was war es??? Wie konnte es dazu kommen, dass sie immer mehr ihrer erlernten Fähigkeiten verlor?
2009 fielen uns weitere Merkwürdigkeiten auf: Sie fiel immer um beim Lachen - heute wissen wir, dass man das Kataplexie nennt. Dabei verliert Lili ihren Muskeltonus und - noch schlimmer - ab dem Sommer 2009 kamen epileptische Sturzanfälle dazu. Bis Weihnachten 2009 hatte sie 17 am Tag. Mittlerweile waren wir bei unserer Diagnosesuche bei einem Stoffwechselspezialisten in Belgien angekommen, der ihr ein Antiepileptikum verschrieb, das auch ganz gut anschlug - die Anfälle gingen erst mal auf ca. einen Anfall pro Woche zurück.
Da wir so verzweifelt waren, haben wir natürlich selbst recherchiert. Anfang 2010 stießen wir auf die Stoffwechselerkrankung Niemann Pick. Die Symptome passten haargenau und das Video eines Niemann Pick-Kindes bei Youtube untermauerte die Vermutung. Da wir kurze Zeit zuvor bei einer Quarks&Co-Sendung über seltene Erkrankungen einen faszinierenden Beitrag über Professor Marquardt von der Universitätsklinik Münster gesehen hatten, haben wir diesen gebeten, Lili auf Niemann Pick zu testen. Im April 2010 hatten wir die traurige Gewissheit. Lili leidet an dieser bisher leider nicht heilbaren Stoffwechselerkrankung. Aber wir waren so glücklich! Endlich hatten wir einen Namen für unseren Feind. Einen Arzt. Eine Selbsthilfegruppe. Ein internationales Netzwerk. Und ein Medikament, das zwar nicht heilt, aber ein klein wenig verlangsamt. Schlimm war dann noch der Mai 2010. Als wir Bert testen mussten, ob er auch betroffen ist. Denn diese heimtückische Krankheit kann in verschiedenen Lebensphasen ausbrechen. Auch erst in der Pubertät oder im frühen Erwachsenenalter. Aber Bert ist gesund. Eigentlich konnten wir nochmal seinen Geburtstag feiern.
Lili erscheint uns trotz allem glücklich. Sie hat zwar jegliche Selbstständigkeit verloren und ist komplett auf unsere Hilfe angewiesen. Mittlerweile kann sie nicht mal mehr alleine essen. Aber sie strahlt unwahrscheinlich viel Freude, Zufriedenheit und v.a. Würde aus. Sie treibt uns voran und gibt uns so viel Liebe, die uns daran hindert, zu verzweifeln. Sie kann zwar nicht mehr sprechen, kommuniziert aber weiterhin durch Blicke und kleine Gesten. Und Musik ist immer noch ihre große Leidenschaft. Sie bekommt seit Mai 2010 das bisher einzige zugelassene Medikament "Zavesca" (Miglustat). Wir haben das Gefühl, dass der Verlauf dadurch auf jeden Fall verlangsamt wurde.