Hoffnungsfroh gehen wir ins Neue Jahr! Silvester war total schön - Spieleabend mit lieben Kölner Freunden und Onkel Marcus. Lili ist entspannt. Sie liebt diese ruhigen frohen Tage. Und wir lassen bisher alles sehr ruhig angehen und haben uns von dem letzten Jahr erholt - oder zumindest mal durchgeatmet. Spontan schwirrte mir natürlich mal wieder dieses schöne alte Lied "Nehmt Abschied, Brüder, schließt den Kreis, das Leben ist ein Spiel - nur wer es recht zu spielen weiß, gelangt ans große Ziel" durch den Kopf.
Wird jetzt glaube ich Zeit, dass der Alltag wieder los geht.
Lilis musikalisch zweitliebste Jahreszeit hat begonnen. Bisher alles ruhig bei uns. So kann Lili ihr kölsches Liedgut genießen. Letztes Jahr wurden wir an Karneval aus dem Krankenhaus entlassen und konnten unsere Reise nach Amerika leider nicht antreten. Wer weiß ... vielleicht ist es ja gut so.
Im Moment geht es ihr nach wie vor gut - sie verzaubert uns als "Funkenlilinchen".
Unser Jahr 2013 war mal wieder geprägt von vielen Höhen und Tiefen, eine Achterbahn der Gefühle und der Ereignisse. An manchen Tagen haben wir den Eindruck, dass das, was wir in wenigen Tagen erleben, doch eigentlich schon für ein zumindest halbes Leben reichen würde. Jedoch handelt es sich zum Glück auch um viele positive Erlebnisse; die negativen Ereignisse ziehen wirklich oft Positives nach sich. Auch dieses Jahr wurden wir von so vielen Menschen unterstützt. Und es wurde mir wieder einmal bewusst, welches Glück ich mit meinem Arbeitgeber habe, der immer sehr flexibel reagiert, wenn bei uns mal wieder „Land unter“ ist und uns in unserem ganzen Chaos wenigstens das Gefühl wirtschaftlicher Sicherheit gibt. Nicht mit Gold aufzuwiegen ist auch die Hilfe unseres örtlichen Kinderhospizdiensts. Lilis „Carla“ und „Edith“ kommen regelmäßig zu Besuch und haben ein außergewöhnliches Feingefühl, mit Lili auch ohne Sprache zu kommunizieren und zu interagieren. Und Lilis „Dienstagsgisela“, die Lili liebevoll betreut und immer eine Überraschung für sie bereit hält.
Bis zu den Sommerferien hatten wir das Gefühl, dass Lili relativ stabil ist. Sie hatte zwar immer noch schlimme Probleme und auch häufig Schmerzen wegen ihrer Fissuren, die durch die Darmerkrankung aufgetreten sind, aber wir waren sehr optimistisch, dass wir das dieses Jahr noch in den Griff bekommen könnten, v.a. weil sie auch wieder mit gutem Appetit gegessen hat. Wir hofften, dass sich dadurch der Allgemeinzustand stabilisieren könnte. Denn ein großes Problem gab es: Lili vertrug die Sondennahrung nicht, sie bekam immer sofort Durchfall davon. Im Sommer ging Michael mit ihr einige Tage in die Uniklinik Münster, weil eine Endoskopie gemacht werden sollte. Diese ergab zwei Probleme: Es zeigte sich, dass Ihr Darm total zerklüftet ist und wie eine Mondlandschaft aussieht. Das andere Problem war, dass sie durch den Eingriff wieder total geschwächt war – er fand dummerweise statt, als gerade die ganz heißen Tage im Sommer waren und sie lief Gefahr, zu dehydrieren. Dank unserer fantastischen Apothekerin konnten wir sie aber wieder aufpäppeln; sie hat immer wieder gute Tipps für uns auf Lager.
Eine Woche später stand unser
Jahresurlaub an. Wir hatten lange überlegt, ob wir es uns in vielerlei Hinsicht leisten können, in Urlaub zu reisen. Bert ist mittlerweile 16 Jahre und wir wollten ihm und uns gerne einen Familienurlaub ermöglichen. Da Bert und Michael surfen, hatten wir uns Fuerteventura ausgesucht. Immerhin können wir auch etwas Spanisch, so dass wir bei einem eventuellen Notfall nicht ganz so hilflos mit Lili dastehen würden, wie in Griechenland oder Italien. Mit einem sehr mulmigen Gefühl ging es los. Das meiste Gepäck nahm tatsächlich Lilis Pflege- und Sondenbedarf ein. Eigentlich hätten wir einen kleinen Versorgungshubschrauber gebraucht, der neben uns herfliegen müsste. Zum Glück ist Bert mittlerweile groß und stark und hat das Gepäck fast alleine geschleppt. Die ersten Tage waren ein ständiges Abwägen, wie es Lili geht – nach ein paar Tagen haben wir gemerkt, dass es ihr fantastisch ging. Die Entscheidung nach Spanien zu fliegen, war genau richtig. Sie blühte richtig gehend auf. Das war auch der Eindruck unserer verschiedenen Urlaubsbekanntschaften. Das nicht zu heiße Klima, das schöne Meer und das permanente Füttern in aller Ruhe taten ihr total gut und wir kamen alle sehr erholt nach Hause.
Dann ging es direkt nach Münster ins Krankenhaus, denn es stand ein aufregendes Projekt an. Prof. Marquardt wollte endlich probieren, Lili Cyclodextrin oral zu verordnen in der Hoffnung, dass sich der Darm davon erholt. Wir begannen mit kleiner Dosierung und haben wöchentlich gesteigert, alle zwei Wochen stehen nun Arztbesuche an und an dem Tag davor müssen wir – in einem sehr aufwändigen Prozess - Stuhl- und Urinproben sammeln. Das heißt, wir sind jetzt jeden zweiten Sonntag ans Haus gefesselt, was wir aber sehr sehr gerne auf uns nehmen, dafür, dass jetzt endlich etwas geschieht. Zuerst vertrug sie die Cyclodextringaben auch gut, aber ab einer bestimmten Dosis traten dann wieder Durchfälle auf, so dass wir bei dieser Dosis erstmal aufgehört haben, weiter hoch zu dosieren.
Leider zeigte sich im Herbst, dass es ihr nicht wirklich gut ging. Sie verlor wieder Gewicht, wurde zunehmend blass und teilnahmslos und war extrem müde die ganze Zeit. Als Prof. Marquardt sie bei einem unserer regelmäßigen Besuche gesehen hat, hat er sich sehr erschreckt und wollte sie eigentlich direkt dabehalten. Es wurde dann die letzte Woche vor Weihnachten, die wir in Münster verbracht haben. Es war natürlich stressig so kurz vor Weihnachten eine Woche im Krankenhaus zu verbringen, aber für Lili war es notwendig. Es haben sich abteilungsübergreifende Fachärzte um sie gekümmert. Prof. Marquardt hatte einen Forscher aus Hannover hinzugezogen, der Lilis Enzymtätigkeit untersucht und herausgefunden hat, dass bei ihr eine reduzierte Isomaltase und Sucrase-Tätigkeit vorliegt, was bedeutet, dass sie keine Kohlenhydrate verarbeiten kann. Deshalb wurde ihr komplett kohlenhydratfreie Sondenkost verordnet und wir müssen zusätzlich darauf achten, dass sie auch über die Nahrung möglichst wenig Kohlenhydrate zu sich nimmt. Bei Lilis Vorlieben ist das nicht allzu schwierig. Ihr Lieblingsessen sind nach wie vor Avocados, Krabben und Oliven. Bisher verträgt sie es gut. Allerdings hat der professionelle Wundpfleger, der hinzugezogen wurde, festgestellt, dass Lilis Fissuren sehr sehr schlimm sind. Man spricht – vor allem an der Stelle, an der sich die Fissuren befinden – von sich selbst nährenden Wunden. Sie sind ständig Bakterien ausgesetzt. Wir versuchen es über die Weihnachtsferien jetzt noch, die Wunden noch besser und noch häufiger zu desinfizieren. Sollte bis Januar aber immer noch keinerlei Besserung festzustellen sein, bleibt uns als letzte Lösung nur noch der künstliche Darmausgang. Leider sind in den letzten Wochen auch ihre Anfälle wieder schlimmer geworden. Hatten wir im letzten Jahr ca. einen Anfall alle paar Wochen, so hat sie jetzt wieder zwei am Tag. Das beobachten wir mit Unruhe und werden es – sollte es nicht besser werden – auf jeden Fall auch abklären lassen.
Lili nimmt ihr ganzes Dasein immer noch mit einer stoischen Gelassenheit und ungeheurer Lebensfreude hin. Wir können es manchmal wirklich nicht fassen, wie sie das alles meistert. Bert nabelt sich natürlich mehr und mehr ab und geht jetzt ganz verstärkt seine eigenen Wege, aber er ist Lili immer noch ein sehr zuverlässiger Bruder, auf den wir uns verlassen können.
In Sachen Forschung hat sich im letzten Jahr einiges getan. Im nächsten Jahr geht die Cyclodextrin-Studie der FDA voraussichtlich in die 2. Phase und wir hoffen so sehr, dass europäische Kinder berücksichtigt werden, da es einfach für die Patientenstudie aufgrund der Seltenheit der Erkrankung eigentlich zu wenig Patienten gibt.
Außerdem werden wohl noch zwei weitere Patientenstudien mit anderen potentiellen Wirkstoffen begonnen. Aber für uns ist das Cyclodextrin immer noch die Therapie Nr. 1. Bei den anderen Studien ist Lili auch leider nicht für die Auswahlkriterien geeignet.
Ich persönlich hatte im letzten Jahr drei Highlights, an denen ich unsere Selbsthilfegruppe vertreten durfte.
Am Tag der seltenen Erkrankungen haben wir mit dem Kölner Franziskuskrankenhaus und einigen anderen Selbsthilfegruppen eine große Veranstaltung im Herzen von Köln organisiert, um Aufmerksamkeit auf die seltenen Erkrankungen zu ziehen.
Und im Dezember – unmittelbar vor unserem Krankenhausaufenthalt – durfte ich an einem Niemann Pick-Forum in Berlin teilnehmen, das jährlich als Schulung für Ärzte ausgerichtet wird. Dort wurde ich gebeten, einen Vortrag zu halten über das Leben vor, während und nach der Diagnose. Ich habe an der Resonanz gemerkt, dass solche Veranstaltungen für die Ärzte sehr wichtig sind. Denn durch die persönliche Geschichte der Familien wird ihnen der Name Niemann Pick mit all den damit einhergehenden verschiedenen Symptomen und der Dramatik des Verlaufs im Gedächtnis bleiben und – wer weiß – eventuell werden auch diese Ärzte einmal ein Kind mit der Erkrankung diagnostizieren und dem Kind damit das einzig bisher verfügbare Medikament zugänglich machen. Es sind immer noch sehr viele – viel zu viele – Kinder undiagnostiziert. Bei uns vergingen sechs Jahre vom Auftreten der Symptome bis zur Diagnose – und leider sind wir keine Ausnahme. Der Durchschnitt sind nach wie vor fünf Jahre.
Im August, zeitgleich mit Lilis erstem Krankenhausaufenthalt, war ich auf einer internationalen Niemann Pick-Konferenz in den USA und durfte dort vor internationalen Forschern, Familien, Ärzten, Pharmavertretern und FDA-Vertretern einen Vortrag über die europäischen Hoffnungen bzgl. Cyclodextrin halten. Ich war sehr nervös, aber auch froh über die Chance, denn dadurch kommt man mit den Leuten wesentlich besser ins Gespräch. Es war mal wieder überwältigend, wie persönlich solche Veranstaltungen sind durch die geringe Zahl der erkrankten Patienten. Auch von dieserVeranstaltung kam ich frohgmut und gestärkt zurück.
Entschleunigung. Ein wichtiges Projekt. Es bleibt uns keine Zeit für das Wesentliche. Wir sind beide so hin- und hergerissen zwischen unserer für uns beide sehr wichtigen Arbeit, Lilis Pflege, Sorge um Lili, um den Beruf und vor allem auch darum, Bert nicht zu kurz kommen lassen und unserem größten aller Übel, nämlich dem Haushalt, dass wir manchmal tagelang nicht dazukommen, mal durchzuatmen, ein Buch in die Hand zu nehmen oder einfach nur eine Kerze anzuzünden und hineinzusehen. Es ist tatsächlich so, dass man wie eine Maschine funktioniert, an manchen Tagen wird mir erst bei der Arbeit klar, welche Kleidung ich an dem Tag anhabe und so vergeht die Zeit in einem Hasten und Rennen.
Den Text für unsere Weihnachtskarte 2013 hatte Bert ausgesucht. Ihm gefallen die "Klassiker" nicht so gut und hat insofern zumindest "konstruktiv" kritisiert, als dass er dann einen Liedtext vorgeschlagen hat.
Unser diesjähriges Weihnachtsfest wurde dieser Karte leider schon nicht gerecht. Dadurch, dass auch mein Bruder massive gesundheitliche Probleme hatte, während sich zeitgleich Lilis Gesundheitszustand weiter verschlechterte, war es ein sehr trauriges Weihnachtsfest. Wobei der heilige Abend sehr harmonisch und feierlich war. Wir haben, wie üblich, mit Michaels Familie zusammen gefeiert. Dieses Jahr waren wir bei seinem Bruder eingeladen und haben für den Abend tatsächlich weitestgehend die Sorgen hinter uns gelassen.