Im letzten Jahr haben wir das neue Jahr mit viel Hoffnung und Energie gestartet. Der Übergang in das Jahr 2014 war sehr ruhig. Wir wollten zumindest am letzten Abend dieses nervenaufreibenden Jahres etwas Ruhe in unser Leben bringen. Und zumindest das ist uns gelungen. Wir hatten uns aus allen in Frage kommenden Eventualitäten ausgeklinkt und endlich mal die Ruhe und die Zeit, gemeinsam auf der Couch zu sitzen, in eine Kerze zu blicken und durchzuatmen. Bert war auf einer Party und Lili ihren Gewohnheiten entsprechend früh im Bett. Um Mitternacht haben wir uns das schöne Feuerwerk der anderen angesehen und uns gewünscht, dass das neue Jahr besser wird.
Das Jahr 2014 war für uns ein Jahr, das aus Zeitfenstern bestand. Die meisten leider relativ klein und vor allem eng aufeinanderfolgend. Ich hätte es im letzten Jahr nicht für möglich gehalten, dass wir noch enger getaktet werden können. Aber leider war es so.
Nachdem bereits einige Monate des neuen Jahres vorübergegangen sind, fällt mir spontan dieser Spruch aus meiner Schulzeit ein:
Und aus dem Chaos sprach eine Stimme zu mir:
"Lächle und sei froh, es könnte schlimmer kommen!", und ich lächelte und war froh, und es kam schlimmer...!
Das Jahr fing direkt dramatisch an. Wir wollten in der 1. Januarwoche mit Lili ein von Professor Marquardt möglich gemachtes Reha-Programm in Köln beginnen. "Auf die Beine, Kinder" - Galileotraining mit kombinierter Physiotherapie, da Lili sehr stark Muskeln abbaut. Wir sollten um acht Uhr morgens in dem Reha-Center sein, stattdessen fuhren wir notfallmäßig nach Münster, weil es Lili sehr schlecht ging. Aufgrund der Darmerkrankung blutete sie stark und hatte auch große Schmerzen. Im Krankenhaus stellte man fest, dass Lilis Dickdarm komplett entzündet war – viel zu entzündet, um einen künstlichen Darmausgang legen zu können. Deshalb stellte man sie auf eine Kortisontherapie ein, die ihr zu Beginn auch geholfen hat. Verbunden mit der Ernährungsumstellung auf kohlenhydratfreie Kost beruhigten sich die Durchfälle und sie nahm tatsächlich auch zu. Der Horror hatte uns fest im Griff, dazu kam, dass ich selbst nebenher auch noch unter einem Magen-Darm-Infekt litt. Das war eine Erkenntnis, die mich immerhin schätzen ließ, dass unsere Situation doch noch ganz gut machbar ist, wenn man selbst bei guter Gesundheit ist - aber sobald einer von uns gesundheitliche Einschränkungen zeigt, stürzt unser fragiles Gleichgewicht in sich zusammen. Wir mussten zwei Wochen dort bleiben, mit kurzen Pausen zuhause, wechselten uns immer wieder ab, was wirklich eine schwierige logistische Herausforderung war. In den Zeitfenstern, die wir nicht im Krankenhaus verbrachten, schauten wir, dass wir unserem Beruf einigermaßen nachgehen konnten. Dummerweise gab genau zu der Zeit unser mittlerweile 20 Jahre altes Auto auf. Dank eines großzügigen Zuschusses von Michaels Mutter und Tante konnten wir während unseres Krankenhausaufenthalts in Münster direkt um die Ecke in Bielefeld ein „neues Gebrauchtes kaufen“ – eine unserer vielen Hauruckaktionen in diesem Jahr. Zusätzlich hatten wir in dem Monat Zug- und Spritkosten von über 500 Euro. Hier war ich mal wieder froh, bei der Arbeit auf Verständnis zu stoßen! Was an dem "neuen" Auto total toll ist, ist die Fahrersitzbank - es ist eine Dreier-Bank, Lili sitzt jetzt immer in der Mitte von uns und ist Papas Co-Pilotin.
Hier sieht man übrigens die typischen Vorbereitungen eines Spaziergangs. Die Sonde muss - für andere Spaziergänger möglichst unauffällig - am Rolli installiert werden. So kann Lili essenderweise ihren Rolli schieben.
Dann war es auch schon wieder so weit für den Tag der seltenen Erkrangungen. Eigentlich hatte ich nach der ganzen Dramatik Anfang des Jahres vor, dieses Jahr an keiner Aktion teilzunehmen. Dann hatte jedoch die Allianz chronisch seltener Erkrankungen (Achse e.V.) bei uns angefragt, ob wir uns vorstellen könnten, anlässlich dieses Anlasses bei sternTV aufzutreten. Wir hatten uns sehr gefreut, denn eigentlich verkörperte sternTV für uns die ideale Mischung aus Boulevard und seriösem Journalismus. Allerdings wurden wir sehr enttäuscht. Eigentlich sollten Experten im Studio sitzen (in unserem Fall Prof. Marquardt), die aber kurzfristig wieder ausgeladen wurden. Die avisierte Sendezeit war gekürzt worden wegen der Kiew-Krise. Statt des Professors musste ich ins Studio. Trotz Panikattacke habe ich es irgendwie ausgehalten. Die Verpflegung und das ganze Drumherum, auch das gesamte Team, waren toll.
Aber manchmal wird sie auch abgestöpselt und kann - von Papa gestützt - einen Berg erklimmen.
Lili war auch nicht wirklich fit genug dafür.
Ansonsten ging Karneval (fast) spurlos an uns vorüber.
Im Juni wurde Lili in ihrer Schulgemeinde mit vier anderen Kindern zusammen konfirmiert. Das war ein sehr glücklicher bewegender Tag für uns. Wir sind sehr dankbar, dass einer unserer örtlichen Pfarrer das zusammen mit der Schule möglich macht. Es war ein sehr besonderes Fest, nicht zuletzt dank Gurkes tollem Catering.
Da wir dieses Jahr sehr viele Krankheitstage mit Lili überbrücken mussten und auch finanziell nicht so gestellt waren, dass wir in Urlaub hätten fahren können, haben wir die gesamten Sommerferien über gearbeitet und eine neue Therapie begonnen, vor der wir eigentlich eine Riesenangst hatten. Da Lilis durch die Darmerkrankung hervorgerufene Fissur trotz diverser Therapieversuche in keiner Weise besser, sondern immer schlechter wurde, hat uns unser Professor Marquardt zusammen mit seinen Gastroenterologen und Meinungsaustausch mit dem Labor von Fran Platt/Oxford (das Labor untersucht Crohn-like Disease iVm Niemann Pick) überzeugt, eine Immunsupressionstherapie mit Infliximab zu starten. Dafür musste Lili erst einmal alle Impfungen bekommen, die man sich vorstellen kann. Dann wieder zwei Tage ins Krankenhaus nach Münster, um die Therapie, deren potentielle Nebenwirkungen uns große Angst machten, zu beginnen. Aber bisher ist alles gut gegangen. Sie bekommt jetzt alle drei bis vier Wochen eine vierstündige Infusion. Wir müssen aufpassen, falls sie erkältet ist, da eine der Nebenwirkungen Pilze in der Lunge bzw. schwere Lungenentzündungen sein können. Zu unserem großen Glück arbeiten die Unikliniken Bonn und Münster hier zusammen, so dass wir nicht für jede Infusion nach Münster fahren müssen, sondern die meisten tatsächlich in Bonn verabreicht werden.
Im Sommer hat auch Lili – wie wir alle – großen Anteil an unserem deutschen Fußballweltmeistertitel genommen. Sie ist ja schon immer ein Riesenfan von Miroslav Klose – „Klose“ ist neben Papa, Erbse, Opi und einigen wenigen anderen Kostbarkeiten auch immer noch ein Wort, das man ihr mit einem strahlenden Lächeln ab und zu entlocken kann. Ihre Patentante Elgin hat dafür gesorgt, dass wir anlässlich Kloses Verabschiedung Freikarten für das Spiel Deutschland/Argentinien in Düsseldorf bekommen haben. Ein Highlight. Auch für Bert!!! Und wir hatten supertolle Plätze. Miro Klose stand quasi direkt vor uns.
Am Ende der Sommerferien gab es dann einen ganz besonderen Anruf. Die Chefin von Lilis Schulbegleiterin (Lebenshilfe) rief an und hat uns die Kontaktdaten von einem ehemaligen Marathonläufer aus Düren, Peter Borsdorff, gegeben, der für Kinder an Spendenläufen teilnimmt. Dieser unglaubliche Mann hat es innerhalb von zwei Wochen geschafft, für Lili eine Riesenspende zu erlaufen. Zum einen für einen Rehabuggy, der ihr den Alltag in der Schule erleichtern soll und zum anderen für irgendetwas Besonderes für Lili. Dies war ein Besuch des Rockmusicals Cinderalla in der Beethovenhalle in Bonn. Wir sind seit Sommer auf der Suche nach einem geeigneten Buggy, was sich, trotz Besuches der Rehacare-Messe als recht schwierig gestaltet, da es für Jugendliche und Erwachsene kaum noch Buggies gibt. Jetzt werden wir eine Spezialanfertigung in Auftrag geben, die dann zum Glück auch innerhalb von drei Wochen geliefert werden kann. Aber dank Peter Borsdorff wird dies zum Glück zumindest finanziell nicht problematisch sein (http://www.runningforkids.de.vu/).
In den Herbstferien nahm Lili dann endlich an der für Januar geplanten Reha-Maßnahme teil. Wir verbrachten zwei Wochen mit einem anstrengenden, aber auch effektiven Trainingsprogramm. Der Tag ging morgens schon mit Trainingseinheiten los, insgesamt ca. 4-6 Einheiten pro Tag. Dazwischen auch immer wieder Erholungsphasen. Bei dem Training steht Lili auf einer Galileo-Vibrationsplatte und wird drei Minuten durchvibriert. Ich finde es persönlich sehr unangenehm, aber sie hat super mitgemacht! Bei dem Training können auch Kinder wie Lili sehr gut teilnehmen, da keine aktive Mitarbeit erforderlich ist und trotzdem viele Muskelgruppen angesprochen werden. Danach bekamen wir das Gerät mit nach Hause, um das Programm fortzusetzen.
Direkt im Anschluss an die Reha-Maßnahme habe ich an dem Loire Valley Meeting teilgenommen. Dies ist ein Treffen, das von NPSuisse zusammen mit der Deutschen Niemann-Pick Selbsthilfegruppe organisiert und durchgeführt wird. Mein Arbeitgeber spendet jedes Jahr eine große Summe an unsere Selbsthilfegruppe (letztes Jahr 10.000 Euro). Das Treffen wurde u.a. von diesem Geld finanziert und es war wieder hochkarätig besetzt. Ziel ist ein Austausch der Forscher und Ärzte (hauptsächlich aus Europa, aber auch zwei aus den USA) im kleinen Rahmen, um den aktuellen Stand ihrer Forschung zu präsentieren und neue Kooperationen und Vernetzung zu schaffen. Wir wollen damit versuchen, die Forschung in Europa zu stärken. Das Treffen war wieder fantastisch. Meine erste Begegnung war mit dem Forscherehepaar aus Oxford, die den Zusammenhang von Morbus Crohn und Niemann Pick erforschen. Ich hatte eine halbe Stunde Zeit, die beiden zu löchern. Sie sind überzeugt, dass die Infliximab-Therapie Erfolge zeigen wird – und eventuell auch gute Auswirkungen auf Niemann-Pick haben könnte, da dadurch die Entzündung im zentralen Nervensystem positiv beeinflusst werden könnte. Toll war dann auch die Rückfahrt – eine zweistündige Zugfahrt mit Professor Marquardt nach Paris und dort dann noch ein einstündiger gemeinsamer Besuch in einem Straßencafé, so dass endlich mal Zeit und Ruhe für einen Austausch möglich war und ich einmal mehr von seiner menschlichen Seite und seinem Humor sehr beeindruckt war!!!!
Und dann hatten wir genau eine Woche Normalität. Bis uns die Schule anrief und uns mitteilte, dass Lili stark blute. Die Blutungen wurden auch die nächsten Tage nicht besser. Am 3. November entschlossen wir uns kurzfristig, in die Kinderklinik nach Bonn zu fahren. Die Bonner Gastroenterologen und Kinderchirurgen kennen Lili ja jetzt auch seit drei Jahren, so dass wir nicht viel erklären mussten, sondern sehr schnell dran kamen. Um den Rahmen der Website nicht zu sprengen, halte ich mich jetzt kurz. Nach vier Vollnarkosen, zwei Tagen Abführen (bis sie sich übergeben musste), einer Endoskopie und einigem Krankenhaushopping be
kam Lili am 14. November einen künstlichen Darmausgang. Die Zeit war schrecklich, extrem belastend – vor allem natürlich für Lili. Ich weiß nicht, wie sie es schafft, immer weiter zu lächeln und nie, aber auch wirklich NIE irgendjemandem irgendetwas übel zu nehmen oder zu hadern. Michael und ich haben in der Zeit mal wieder wie ein Uhrwerk funktioniert. Jeder durfte immer drei Tage arbeiten und dann wieder drei Tage ins Krankenhaus. Mein riesengroßer Dank auch mal wieder an meinen Arbeitgeber. Nicht nur, dass ich mir die Zeit nehmen konnte und sollte, die wir brauchten, auch dieses Jahr spendet Luther eine große Summe wieder an unsere Selbsthilfegruppe. Auch dieses Geld kommt wieder ausgewählter Forschung zugute in der Hoffnung, dass es doch noch irgendwann eine Therapie gibt, die Lili retten könnte. Meinen Geburtstag haben wir in diesem Jahr auch im Krankenhaus gefeiert. War trotzdem schön!
Lili hat sich von den OPs erstaunlich gut erholt. Problematisch war dann nur wieder die Situation in der Schule. Die Schule ist zwar meist sehr kooperativ, aber die letzten Wochen mussten wir uns wieder mal die Frage der Beschulbarkeit stellen lassen. Solche Sorgen sind dann die Nebenkriegsschauplätze und können ganz leicht der Anfang einer Lawine sein, die ins Rollen kommt. Was passiert, wenn Lili nicht mehr beschulbar ist? Wie ist es vereinbar mit unserem Beruf und unserer finanziellen Grundlage? Ich hoffe, dass wir es für dieses Mal wieder geschafft haben, uns in dieser Hinsicht durchzusetzen und der Schule die Sorge zu nehmen – aber dieses Damoklesschwert schwebt leider ständig über unserem Kopf.
Irgendwann in diesem Jahr wurde mir in einem Gespräch mit Lilis Patenonkel Bernd klar, dass sich etwas Grundlegendes bei uns geändert hat. Unser Blick ist jetzt nach unten gerichtet. Nicht mehr nach vorne, nicht mehr nach links oder rechts. Wir blenden alles aus, was nicht unmittelbar erledigt werden muss – wobei wir leider manchmal selbst das ausblenden müssen. Volle Konzentration auf den nächsten Schritt. Das große Ziel gibt es nicht – zumindest sehen wir es im Moment nicht. Eventuell schaffen wir im nächsten Jahr eine Kurve und sehen dadurch wieder ein Ziel. Aber im Moment ist es uns nur eben so möglich, einen Fuß vor den nächsten zu setzen.
Wir haben zum Glück nach wie vor rießengroße Unterstützung von unserer Familie, unseren Freunden, unserem sehr engagierten Kinderhospizdienst und anderen lieben Betreuern und vor allem meinem Arbeitgeber; auch von Menschen, die wir gar nicht persönlich kennen oder die wir nur mal gestreift haben, und die trotzdem für uns da sind. Unser engster Freundeskreis hat letztes Jahr einen Verein gegründet für Familien mit neurodegenerativ erkrankten Kindern (Tandem e.V.). Dieser Verein bezahlt für uns eine Putzhilfe, die seit dem Sommer einmal pro Woche für 3 Stunden kommt – eine riesige Entlastung für uns. Auch im letzten Jahr haben uns wieder viele Menschen gerührt mit Aktionen, Worten, Spenden Zuverlässigkeit. Leider haben wir nicht die Zeit, viele Kontakte zu halten und zu pflegen. Unser ganzer Fokus ist auf Lili, den Umgang mit ihrer Erkrankung, Bert, Berufstätigkeit und vor allem die Nebenkriegsschauplätze gerichtet – und leider auch die ganze Kraft. Michael schöpft neue Energie, indem er ab und zu mal sein Surfbrett mit Segel (und im Sommer auch Bert) einpackt und sich den Wind um die Ohren blasen lässt und ich habe mir auch fest vorgenommen, mir selbst mehr Zeitfenster zu nehmen, um meine negative Energie wieder in Kraft umzuwandeln.
Leider haben wir uns in diesem Jahr von einigen Niemann-Pick Patienten verabschieden müssen, die uns sehr ans Herz gewachsen waren. Kurz vor Weihnachten noch von Fabian, einem kleinen Jungen mit fünf Jahren. Wir sind dankbar, dass wir Lili noch haben und auch dieses Weihnachtsfest – ihre allerliebste Jahreszeit – mit ihr gemeinsam feiern können.